Biographie

Li Trieb, geboren 1953 in Neustadt / Donau, absolvierte zunächst eine Ausbildung an der Kunstakademie in Augsburg. Danach machte sie eine Schneiderlehre und schloß später ein weiteres Studium an der Academy of Fine Arts in Kalkutta an. Ein siebenmonatiger Aufenthalt in einem buddhistischen Kloster in Thailand war eine sehr prägende Zeit für sie und beeinflußte ihr späteres Schaffen.
1984 gründete sie in Bern ihr eigenes Modelabel „Li Trieb Couture“ in Verbindung mit bildender und darstellender Kunst; sie inszenierte wechselnde Rauminstallationen und Ausstellungen mit dem Ziel, Zusammenhänge oder „Reibungen“ von Kunst und Mode aufzuzeigen.
1995 brach sie mit ihrem Leben als Modedesignerin in der Schweiz und ging (im wahrsten Sinne des Wortes) nach Deutschland zurück. Um wirklich neu anzufangen, zog sie nach Hamburg. Hier konnte sie ihr altes Umfeld ausblenden und sich in eine Art Einsamkeit begeben, die auch die entsprechende Freiheit mit sich brachte, sich ausschließlich der Malerei und Zeichnung zu widmen.
Am 1. Januar 2000 begann sie mit dem „Archiv der Augenblicke“, welches am 18.11.2020 endete. 

 

 

Bibliographie

li trieb, archiv der augenblicke | archiving the moment, Reihe blank-4, hrsg von Reinhard Spieler, museum franz gertsch, Burgdorf 2006

„frisch gestrichen“ aus der sammlung willy michel, malerei, hrsg von katja lenz, museum franz gertsch, Burgdorf/CH 2007

Li Trieb – Archiv der Augenblicke, hrsg. Hilde Leiss und Li Trieb 2013

„Über Wasser. Malerei und Photographie von William Turner bis Olafur Eliasson“ hrsg. Ortrud Westheider und Michael Philipp, Bucerius Kunstforum Hamburg 2015 

ISBN 978-3-7774-2477-4

Archiv der Augenblicke – Werkverzeichnis, Herausgeber Nikolaus Gelpke und Carola Persiehl 2021

  • EIN LEBEN ALS GESTALTETES WERK.

    LI TRIEBS ARCHIV DER AUGENBLICKE

    Der Gegensatz von Motiv und Konzept zur Gestaltung des Motivs könnte größer nicht sein. Li Triebs ikonographisches Interesse gilt Motiven, die es als fixiertes Bild für die menschliche Wahrnehmung streng genommen eigentlich gar nicht gibt: Naturphänomenen wie Wasser, im Wasser auftreffenden Regentropfen, Wolken, Himmelsfarben etc. Im Grunde sind es eher konstant wechselnde Aggregatzustände, die das menschliche Auge nicht zu fixieren vermag, eine Vielzahl von kurzen, nicht einzeln zu identifizierenden Momentaufnahmen, die sich in unserer Wahrnehmung als verdichtete Erinnerung dann zu einem Bild zusammensetzen, das es so nie gegeben hat. Ihr Interesse gilt dem Ephemeren, dem gerade nicht Fixier- und Darstellbaren, noch zutreffender könnte man sagen: Li Triebs eigentliches Thema ist die Zeit.

    Als Gestaltungsprinzip hat sie dieser fehlenden formalen Struktur ihrer Motive, diesem stetigen Fluss der Veränderung, ein maximal strenges Konzept entgegengesetzt. Konsequent erfasst und benennt sie die Zeit, in der sie an der Darstellung ihres Verfließens arbeitet. Li Triebs Erfassung ihrer Arbeitszeit entsteht als Textarbeit parallel zu ihren Zeichnungen – und ist doch viel mehr als eine Textarbeit. Die Erfassung der Zeit ist ein künstlerisches Mittel, um vom Paradoxon der Unmöglichkeit ihrer Darstellung doch einen Eindruck geben zu können. Dabei ist nicht nur die strenge Erfassung der Arbeitszeit von Bedeutung, sondern auch die Form ihrer Darstellung. Li Trieb gibt den Notationen ihrer Arbeitszeit eine strenge und markante Form, die den Inhalt dominiert: Der Text wird in Blockform – quadratisch oder rechteckig kongruent zum zugehörigen Bildformat der erfassten Arbeitszeit – analog zum gezeichneten Motiv mit Abstand zum Rand ins Blatt gesetzt. Mit etwas Abstand betrachtet, nimmt man zunächst nur diese blockhafte Großform in ihrem Verhältnis und ihrer Platzierung im Blattformat wahr; die Lesbarkeit des Textes tritt dahinter zurück. In dieser Blockform vermittelt sich ein statischer, stabiler und kompakter Eindruck – mithin exakt das Gegenteil vom nicht eingrenzbaren und fixierbaren Verlauf der Zeit. Das Text-Bild der investierten Arbeitszeit erscheint so fast gleichwertig zum Motiv-Bild. Ganz nebenbei kann man der erfassten Arbeitszeit aber auch den enormen Zeiteinsatz entnehmen, den Li Triebs Arbeitsweise erfordert.

    In ihren größten Formaten von 88 x 158 cm stecken etwa 120 Tage reine Zeichenzeit, wenn man acht Stunden Zeichenzeit pro Tag ansetzt – wohlgemerkt ausschließlich für diese eine Zeichnung. Die Zeiterfassung gibt es auch in einer anderen Editionsform, nämlich als Monatsblätter, in denen die Schlafzeit schwarz markiert wird und zeichnen, fotografieren, organisieren sowie die Schreibzeit in jeweils unterschiedlichen Grautönen; anders verwendete Zeiten finden keinen Eingang in diese Kartographie der persönlichen Zeitkontingente.

    Li Triebs Zeichnungen folgen einem ebenso strengen formalen Konzept, als gelte es damit ein Gerüst zu erstellen, um den fließenden, diffusen Formen beizukommen. Das Mittel der Serie fungiert als Pendant zur regelmäßig – seriell - erfolgten Zeiterfassung. Jedes Motiv ist angelegt als eine Serie von Zeichnungen, die wie Momentaufnahmen von verschiedenen Aggregatzuständen wirken. Und so wie der Text ihrer Zeiterfassung in Blockform gefasst ist, so gibt es auch ein strenges Konzept von Formatvorgaben: Ausgangspunkt ist das Quadrat, das aber auch wie ein serielles Modul verdoppelt werden kann und dann zum epischen Querformat wird. Als weitere Variation führt sie nach einigen Jahren noch das Quadrat plus die halbe Breite bei gleicher Höhe als Format ein; mehr Varianten lässt sie in ihrem Gesamtwerk nie zu.

    Diese bemerkenswert strenge Grundform in bestimmten Rastern, bestehend aus parallel geführten Text- und Bildarbeiten, strikt eingehaltenen Formatvorgaben und dem Prinzip der Serie, entspricht dem streng wissenschaftlichen Aufbau eines Archivsystems mit klaren Ordnungskriterien. Und folgerichtig benennt Li Trieb ihr künstlerisches Gesamtwerk seit dem 1.1.2000 als Archiv der Augenblicke. Ein Titel, der drei Aspekte miteinander verbindet: den Augenblick als flüchtige Zeiteinheit; das Auge und den Blick als den Aspekt der (künstlerischen) Wahrnehmung, schließlich das Archiv als Aufbewahrungs- und Erinnerungseinrichtung mit klarer Konstruktion und Struktur gegen die Flüchtigkeit und Formlosigkeit sich stets verändernder Formen und Gegebenheiten.

    Li Triebs Archiv der Augenblicke besteht aus verschiedenen Motivserien, die wie die einzelnen Werke in der jeweiligen Serie als unterschiedliche Aggregatzustände ihrer Motive verstanden werden können. Allesamt sind sie als Graphitzeichnungen, bei den Wolkenbildern auch mit direkten Pigment-Einstreuungen, die dann mit Fingern oder mit Pinseln ins Blatt eingerieben werden, umgesetzt, mithin in einer höchst ephemeren, fragilen und flüchtigen, den Motiven entsprechenden Technik. Versuche, diese stets vom Verwischen bedrohten Zeichnungen mit Spray zu fixieren, hat Li Trieb wieder aufgegeben – zum einen, weil ihr die spiegelnde Versiegelung der Oberfläche nicht adäquat schien, zum anderen aber vielleicht auch, weil ihr die Möglichkeit der Veränderung und der Vergänglichkeit für ihre Motive angemessen schien. Allen Werken gemein ist ihre absolut stupende Technik mit einer Brillanz, eine Akribie und Zartheit des Striches wie auch der atmosphärischen Gesamtwirkung, die ihresgleichen sucht.

    Da gibt es die Wasser-Serie, die das kräuselnde, sich permanent wandelnde Spiel der Wellen einer Wasseroberfläche in den Blick nimmt. Dieses Motiv wird stets als All-over inszeniert, damit also kein bestimmtes Gewässer gezeigt, sondern Wasser als kontextloses Phänomen, das nicht weiter konkretisiert oder anekdotisiert werden kann.

    Die Serie Regen zeigt Wasser in einer weiteren Form: nämlich wie es in Form von Regentropfen auf der Wasseroberfläche auftrifft. Man könnte eine philosophische Betrachtung aus dieser Konstellation herauslesen: den Kreislauf des Wassers, die Darstellung von Ursache und Wirkung, die weiten Kreise, die die aus der minimalen Ursache des Auftreffens von einem Wassertropfen auf eine Wasseroberfläche resultieren etc. Aber es ist auch eine minutiöse Strukturbeobachtung und -darstellung, die Li Trieb hier vornimmt: Die unterschiedliche Konsistenz von Wasser in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen; auch hier die schiere Unmöglichkeit, die Flüchtigkeit der Erscheinungen festzuhalten.

    Die Serien Eis und Eisschollen zeigen das Wasser wiederum in einem anderen Aggregatzustand. Li Trieb zeichnet nicht etwa eine glatte gefrorene Eisoberfläche eines Sees, sondern das Geschiebe aus tausenden kleiner Eisbrocken, die ähnlich unruhig und unfassbar wie eine wellige Wasseroberfläche erscheinen. Oder treibende Eisschollen, die in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen ebenfalls ein Bild unendlicher Variationsmöglichkeiten der Natur vor Augen führen. Diese zu Eis erstarrten Wasserformationen sind wie eine Zeitlupenaufnahme der Wasserbewegungen in flüssigem Zustand – und erscheinen dennoch ebenso flüchtig, ebenso vielfältig und unfixierbar wie die flüssige Wasseroberfläche. Als schaute man mit der (Zeit-)Lupe auf das Wasser, um eine klare Struktur zu erkennen – um dann zu entdecken, dass sich in der Mikrowelt unter dem Mikroskop die Makrostrukturen vervielfältigen und wiederholen, ohne je einen festen Zustand zu erreichen. Eine weitere Serie widmet sich Seerosen als eine Kombination von Wasser- und Pflanzenwelt; im gewählten Bildausschnitt formen die Seerosen einen unendlichen Teppich als All-over-Struktur wie auch bei den Serien Wasser und Eis.

    Vor allem beim Motiv der Seerosen ist die kunstgeschichtliche Referenz unübersehbar – Claude Monet hat es mit seiner Serie der Nymphéas unsterblich gemacht und schon 100 Jahre vor Li Trieb die Thematik vom Kreislauf der Natur, aber eben auch von Entstehung und Auflösung der Form ins Zentrum seiner Arbeit gerückt. Auch wenn es nicht den Kern von Li Triebs Arbeit berührt, webt sie ihr Werk in ein weites Feld von künstlerischen Referenzen ein. Insbesondere die lettisch-amerikanische Künstlerin Vija Celmins (geboren 1938) mit ihren Wasser-, Wüsten- und Himmelsmotiven, die sie in Zeichnungen und Radierungen realisiert hat, wäre hier zu nennen, aber natürlich auch der Li Trieb persönlich bekannte Franz Gertsch mit seinen Schwarzwasser- Holzschnitten und Gräser-Motiven in Bildern und Holzschnitten. Letzterer bildete auch den Kontext für Li Triebs allererste Museumsausstellung im museum franz gertsch im schweizerischen Burgdorf.1 Gerhard Richter mit seinen systematischen Untersuchungen nach dem Charakter und den Möglichkeiten des Bildes wäre sicherlich als eine weitere künstlerische Referenz anzuführen, ebenso Roman Opałka oder Hanne Darboven

    mit ihren streng konzeptuellen, seriell angelegten Werkbegriffen.

    Die Serie Fische ist ebenfalls dem Element Wasser verbunden, stellt aber nun Fische, genauer: Kois, japanische Zierkarpfen, in den Mittelpunkt. Die Fische strukturieren auf schwarzem, das Wasser symbolisierendem Bildgrund das Bildfeld in ornamentaler Komposition in Analogie zur Fleckenmusterung der einzelnen Kois. Die kompositorische Struktur folgt wiederum einem All-over-Szenario. Die japanischen Zierfische eröffnen japanische, fernöstliche Denkwelten als weiteres Referenzfeld für Li Triebs künstlerische Praxis. Die meditative Qualität ihrer Motive, vor allem aber auch ihrer streng ritualisierten Arbeitsweise steht fernöstlichen meditativen Praktiken sehr nah und durchzieht ihre Werke wie ein Wasserzeichen als Grundmuster.

    Eine weitere Serie widmet sich Szenerien Ohne Wasser – Wüstenlandschaften, die wie Mondoberflächen wirken, oder Wattlandschaften, die auf verblüffende Art und Weise welligen Wasseroberflächen gleichen, obgleich das Wasser eben gerade nicht da ist, als sei es eine in Sand gegossene Abgussform der Wasseroberfläche. In der Logik Li Triebs lag es nahe, schließlich auch die Wolken als Motivgruppe zu erschließen. Nicht nur, weil auch sie wiederum Wasser in einem anderen Aggregatzustand verkörpern, sondern vor allem auch aufgrund ihrer ephemeren Struktur, die in keinem Moment identisch bleibt, sondern sich stets verändert und neu konstituiert. Auch hier gibt es die Paare aus Zeichnung und schriftlich fixierter Arbeitszeit wie bei den Wasser-, Eis- und Regenbildern. Eine eigene Gruppe bildet die Serie 50 Himmel: 50 quadratische farbige Wolkenporträts im Format von 20,5 x 20 cm (Motivmaß), bei der die Künstlerin farbige Pigmente verwendet, die sie direkt mit den Fingern oder mit Stoffen aufträgt und in das Papier einarbeitet. Parallel dazu arbeitet sie an der fotografischen Langzeitserie Die tägliche Himmelsphotographie, die in quadratischen Ausschnitten im Format von 12,5 x 12,5 cm jeweils einen Himmelsausschnitt mit der Angabe von Datum und Uhrzeit der Aufnahme kombiniert. Die einzelnen Aufnahmen werden zusammengefasst als großer Block in unterschiedlichen Anordnungen gezeigt.

    Parallel zu den Himmelsbildern wiederum begann Li Trieb mit der Arbeit an einem fortlaufenden Langzeitprojekt, das sie bis zu ihrem Tod weiterverfolgte: Die tägliche Himmelsfarbe zum Zeitpunkt meines Erwachens. Jeden Tag notierte Li Trieb die Farbe des Himmels und den Zeitpunkt ihres Erwachens als Text, den sie als jährliche Edition auflegte und an Freunde und Kunden verschickte. Es ist ein akribischer Lebensbericht, der nüchternste Sachlichkeit mit subjektiver Poesie verknüpft. Die Auflistung mag auf den ersten Blick absurd stereotyp wirken, offenbart aber in den Wortschöpfungen und phantasievollen sprachlichen Begriffen von atmosphärischen Farbkonstellationen, deren Wahrnehmung immer auch mit persönlichen Befindlichkeiten und Stimmungen verknüpft ist, eine ganz eigene Welt subjektiver Poesie: blauflügelpittablau heißt es da etwa (31.7.2017), kokoswasserbeige (27.7.2017), elbschlammgrau (26.9.2017), cytwomblygrau (21.12.2017) oder mondsteindunkel (29.12.2017).2 Dahinter steht ein ganzes Lebenskonzept, für das Li Trieb sich bewusst entschieden hat. Nach 18 Jahren erfolgreicher Tätigkeit als Modedesignerin entschloss sie sich, ihr Leben komplett umzustellen und ganz der Kunst zu widmen. Am Beginn dieses neuen Lebensentwurfes stand ein ganz neues Verhältnis zur Zeit: „Wichtig war mir von Anfang an die bewusste Geste und die Köstlichkeit des Augenblicks. Ich habe sieben Monate in einem buddhistischen Kloster in Thailand verbracht, das war eine sehr prägende Zeit für mich, und mein jetziges Arbeiten wurzelt zum Teil in der damaligen Erfahrung.“3 Am 1.1.2000 – auch dies offensichtlich ein konzeptuell gewählter Zeitpunkt - beschloss sie, jeden Tag die Farbe des Himmels zum Zeitpunkt ihres Erwachens zu erfassen, zu benennen und zu notieren. Dazu schreibt sie selbst: „Die Texte standen eigentlich zu Beginn des Projektes. Biographisch betrachtet war das zunächst ein Abschied vom Bild. Ich hatte zuvor schon viele Himmel gemalt, weil mich das Licht in Hamburg von Anfang an fasziniert hatte. Ich fand aber, dass sie viel zu stark von meiner Person durchdrungen waren. Mich störte der persönliche Duktus im Pinselstrich, überhaupt die persönliche Note. Ich wollte die Bilder von meiner Person befreien, alles Persönliche reduzieren oder gar eliminieren. Irgendwann war ich plötzlich bei einem wolkenlosen blauen Himmel und merkte, dass man das eigentlich gar nicht malen konnte: es war kein wolkenloser blauer Himmel, sondern ein monochrom blaues Bild! Der Himmel ließ sich eigentlich nicht mehr erkennen, nur der Titel machte diese Zuordnung möglich – und so kam ich darauf, dass das Wort genügte und es des Bildes

    gar nicht mehr bedurfte.

    Erst nach dieser totalen Reduktion auf das Wort kamen die Bilder langsam wieder hinzu, und mittlerweile generiert sich die Arbeit aus dem Spannungsverhältnis zwischen abstraktem Wort, dem konkreten Foto und den Zeichnungen, die irgendwo dazwischen stehen. Die tägliche Himmelsfarbe zum Zeitpunkt meines Erwachens hat allerdings noch einen zweiten Aspekt, der an die bereits erwähnte Lebensgestaltung anknüpft. Sie stellt die Frage nach dem bewussten Umgang mit Gewohnheiten und ob es gelingt, einer tagtäglichen Handlung … erwachen, schauen, wie spät es ist, schauen, wie das Wetter ist … das Außergewöhnliche abzugewinnen, oder anders gefragt: Wieviel Poesie steckt in der Selbstverständlichkeit?“

    Konsequent gestaltete Li Trieb nicht nur Motive auf Papier, sondern begriff ihr ganzes Leben als ein zu gestaltendes Werk, als zu formende Lebenszeit – gemessene und erfahrene Zeit, für die sie so eindrucksvolle bildnerische Ausdrucksäquivalente gesucht und gefunden hat. Wer das Glück hat, mit einer ihrer Zeichnungen zu leben, wird die von ihr investierte Zeit erfahren, bekommt sie jeden Tag und mit jedem Betrachten aufs neue geschenkt.

    Am Ende schien auch die Natur mit ihr eins zu sein und sie eins mit der Natur – was für eine merkwürdige Koinzidenz! Die letzten vier Wochen ihrer Himmelseintragungen verzeichnen ausschließlich Grautöne, als handele es sich um die Farben ihres Gesundheits- und Seelenzustandes: schiefer – granitgrau – nebelgrau – sprühregen – grauschwarzgestreift – altsilbergrau – morgenmuffelgrau – graumeliert – spinnwebengrau – herbstblaugrau – silbriggrau – graugesprenkelt – schiefer – graphitpulvergrau – granitgrau lauten die Einträge zwischen dem 15.10. und dem 10.11.2020.5 Ein letzter Blick in den Himmel am 11.11.2020, um 7:16 Uhr, vermeldet nebelgrau. Die folgenden sieben Lebenstage bleiben ohne Eintrag – ein Blick in den Himmel war ihr nicht mehr vergönnt.

    – Dr. Reinhard Spieler, Direktor Sprengel Museum Hannover